Buchvorstellung: Nina Lugowskaja - Ich will leben
Während wir die Medien der Westerheimer Bücherei elektronisch erfassten, hat die Inhaltsangabe so manchen Buchs mein Interesse geweckt. Hier möchte ich eines dieser Bücher vorstellen.
- Titel: Ich will leben - Ein russisches Tagebuch 1932 - 1937
- Autorin: Nina Lugowskaja
- Bei uns im Regal: Biografien
- Unsere Mediennummer: 12006006
Das Buch von Nina Lugowskaja findet sich bei uns zwar unter “Biografien”, tatsächlich handelt es sich aber um das Tagebuch eines Teenagers, das wir leicht gekürzt, ansonsten aber unverändert zu lesen bekommen. Kommentiert wird es durch Vor- und Nachworte und einige Fußnoten.
Nina Lugowskaja war 13, als sie 1932 mit dem Schreiben ihres Tagebuchs begonnen hatte. Die letzten Einträge schrieb sie im Januar 1937, kurz nach ihrem 18. Geburtstag. Danach endet das Tagebuch - denn es fiel in die Hände des sowjetischen Geheimdiensts NKWD (dem Vorgänger des KGB), als Nina, ihre zwei Schwestern und ihre Mutter verhaftet wurden. Ihr Vater wurde bereits einige Zeit zuvor verhaftet.
Natürlich war das Tagebuch ein gefundenes Fressen für den NKWD. Nina wurde vorgeworfen, ein Attentat auf Stalin höchstpersönlich geplant zu haben! Es war die Zeit der Schauprozesse und des Massenterrors, in der gerne “Beweise” für vermeintliche konterrevolutionäre Umtriebe konstruiert wurden. Doch auf diese Weise überstand Ninas Tagebuch die gesamte Sowjetunion, nach deren Ende es gut konserviert in einem Kühlschrank des KGB gefunden wurde.
Nun denken sicher manche an Anne Frank. Im Vorwort erfahren wir schon, dass Nina das Schicksal dann doch weniger hart getroffen hat. Tatsächlich wurden Nina, ihre zwei Schwestern und ihre Mutter zu mehreren Jahren Zwangsarbeit in einem Arbeitslager im fernen Osten Russlands verurteilt und mussten diese Zeit auch bis zum Ende durchstehen. Danach konnten sie aber nach und nach zu einem normalen Leben zurückkehren. Nina erlebte noch das Ende der Sowjetunion - doch in ihrer Umgebung wusste niemand von ihrer Zeit im Gulag.
Das Tagebuch schildert also die Jahre davor. Nina besuchte die Schule, ihre Schwestern weiterführende Institute, und die Mutter versuchte, die Familie übers Wasser zu halten, während der Vater sich schon nicht mehr in Moskau aufhalten durfte (und es dennoch zeitweise illegal tat).
Ein solches Tagebuch zu lesen, verlangte mir mehr Geduld ab als die Lektüre eines historischer Romans oder eines geschichtlichen Sachbuchs, in dem wir auch etwas über diese Zeit erfahren würden. Das Tagebuch war natürlich nie für die Augen anderer bestimmt gewesen, und die Schilderung des Alltagslebens einer Teenagerin in Moskau ist nicht immer spannend… da wird immer wieder haargenau dokumentiert, auf welche Weise dieser oder jener Junge aus Ninas Klasse auf Nina wirkte - und was wohl heute der freche Blick des angehimmelten Ljowkas zu bedeuten hatte? Nach einigen Seiten fiel mir ein heute nicht mehr sehr gebräuchlicher Begriff ein: Da schreibt ein “Backfisch”.
Das Faszinierende an diesem Buch liegt daran, dass es naturgemäß absolut authentisch ist. Auch wenn man aus den Geschichtsbüchern über eine Epoche im Groben schon Bescheid weiß - eine Stimme eines ganz normalen und auch noch jungen Menschen, der in dieser Zeit lebte, zu hören, ist etwas ganz anderes. Von Autoren historischer Romane wie Rebecca Gablé oder Ken Follett lasse ich mich gerne unterhalten. Doch wieviele historische Details solche Romane auch nebenbei vermitteln, die handelnden Personen wirken zu oft so, als hätte man sie per Zeitmaschine aus unserer Zeit in den Roman versetzt, und meist wollen uns die Autoren ja auch irgend etwas über unser heutiges Leben mitteilen.
Schon am Anfang des Tagebuchs wird deutlich, wie Nina schon als 13-jährige zum sowjetischen System steht, nämlich sehr ablehnend. Der Vater, ein ehemaliges Mitglied der (eigentlich ebenfalls sehr linken) Partei der “Sozialrevolutionäre” war als Mitglied einer quasi privatwirtschaftlichen Bäckerei-Kooperative “zu erfolgreich” geworden und so wohl in das Visier der Staatsmacht geraten.
Die Passagen des Tagebuchs, die sich auf die Politik beziehen, sind trotzdem eher rar, aber natürlich interessant. Das waren sie auch für den Geheimdienst, der sie mit Unterstreichungen versah. Verblüfft hat mich, wie genau Nina Bescheid wusste, was im Land passierte, sie kannte sogar konkrete Zahlen zu den Opfern der Zwangskollektivierung in der Landwirtschaft (eine Fußnote klärt darüber auf, dass die tatsächlichen Zahlen nochmal um ein mehrfaches höher waren). An einer Stelle beschreibt sie auf journalistische Weise, welche verschiedenen Kategorien von Läden es in Moskau gibt - die für den normalen Sowjetmenschen und die für die neue Sowjet-Aristokratie.
Überhaupt spricht aus dem Tagebuch ein begabtes und sehr ernsthaft wirkendes junges Mädchen. Ich mag mich irren, aber wer in dieser Altersklasse schreibt heute noch regelmäßig Tagebuch und verbringt viele Stunden mit dem Lesen klassischer Literatur? Leider glaubte Nina so überhaupt nicht an sich selbst und erging sich immer wieder in Selbstzweifeln, hielt sich für dumm und hässlich, als Frau nicht nur benachteiligt, sondern gegenüber Männern sogar minderwertig, und wirkt einfach depressiv. Der heutige Leser quält sich mit ihr.
Zum Ende des Tagebuchs hin wirkt der Inhalt reifer, ein wenig optimistischer und realistischer. Doch die Pläne, die Nina für sich selbst gefasst hatte, wurden dann durch die Katastrophe, die über die Familie kam, zunichte gemacht.
Für mich war das mal etwas anderes. Kein Pageturner und auch nicht ganz das, was ich erwartet hatte, aber das Gelesene wird bei mir im Hinterkopf bleiben. Manches hat mich ins Grübeln gebracht.